Rio Grande/Rio Bravo

 

Die Kirche Nuestra Señora del Refugio sah Ende der 1990er Jahre etwas mitgenommen aus, aber dass konnte nicht verwundern, denn sie war seit 1953 vom Wasser des Falcon-Reservoirs überflutet gewesen. Der Stausee wurde gebaut, um so viel Wasser zu speichern, dass der Rio Grande/Rio Bravo immer einen relativ gleichmäßigen Wasserstand hat. Aber 1992 war der Stausee das letzte Mal gefüllt gewesen, und nach einem Jahrzehnt geringer Niederschläge und übermäßiger Wassernutzung war er nun nur noch zu etwa zehn Prozent gefüllt. Deshalb tauchte die Kirche wieder aus dem Wasser auf und wurde zur Touristenattraktion.

 

Der Fluss selbst führte von Februar bis August 2001 nur noch so wenig Wasser, dass er versiegte, bevor er den Golf von Mexiko erreichte. Im Jahre 2002 erreichte der Fluss erneut monatelang nicht das Meer. Die USA errichteten sogar auf der zeitweise entstandenen Sandbank zwischen Fluss und Meer einen Grenzposten.

 

Weniger Wasser und höhere Schadstoffbelastung

 

Der 3.140 Kilometer lange Fluss entspringt in den Rocky Mountains in Colorado. Sein Unterlauf bildet über annähernd 2.000 Kilometer die Grenze zwischen den USA und Mexiko. Das Einzugsgebiet des Flusses umfasst mehr als 900.000 Quadratkilometer. Die Trinkwasser­versorgung der 11 Mil­lionen Menschen der Region hängt zu 97 Prozent vom Rio Grande/Rio Bravo und seinen Zuflüssen ab. Die US-Amerikaner nennen den Fluss Rio Grande, die Mexikaner Rio Bravo. John Wayne spielte die Hauptrolle in zwei Filmen, die an diesem Fluss spielen, „Rio Grande“ und „Rio Bravo“.

 

In den Zeiten, in denen die Western spielen, dehnte sich rechts und links des Stromes staubiges, trockenes Land aus. Das hat sich inzwischen geändert, vor allem auf der US-Seite. Denn hier wird das Wasser des Flusses genutzt, um eine intensive Bewässerungslandwirtschaft zu betreiben. Das hat seinen Preis. Am Unterlauf des Rio Grande/Rio Bravo wird mehr als 85 Prozent des Flusswassers für landwirtschaftliche Zwecke abgezweigt.

 

Aber nicht nur die schwindende Menge des Flusswassers bereitet Sorgen, sondern auch die zunehmende Belastung durch Pestizide aus der Landwirtschaft und Schadstoffe der Industrie. So kann es nicht überraschen, dass die Pflanzen- und Tierwelt des Flusses schwer geschädigt ist. Von den 700 Tierarten, die im Fluss gezählt wurden, sind fast 90 vom Aussterben bedroht. Der US-amerikanische Umweltexperte William Nitze weist darauf hin, dass der Rio Grande/Rio Bravo kein Einzelfall ist: „Die Wasserknappheit wird auch in anderen Gegenden der USA zunehmend zum Problem.“ Trotzdem wird weiter auf eine Ausweitung der Bewässerungslandwirtschaft ge­setzt. Die wachsende Urbanisierung verschärft am Rio Grande/Rio Bravo die Wasserknappheit, wobei ein Stadtbewohner auf der US-Seite am Tag doppelt so viel Wasser verbraucht wie ein Bewohner einer mexikanischen Stadt.

 

„Wasserkrieg mit Mexiko“

 

Die Trockenheit Anfang dieses Jahrhunderts hat ein Problem unübersehbar werden lassen, das sich seit Jahrzehnten abzeichnete: die Übernutzung der Wasserreserven der Region. In einem Vertrag von 1944 wurde der Anspruch der USA und Mexikos auf jeweils einen Teil des Wassers geregelt. Der hohe Anteil, der den USA zugesprochen wurde, ermöglichte den Aufbau einer intensiven Bewässerungslandwirtschaft. Trotzdem gehört diese Region mit einer hohen Arbeitslosigkeit zu den ärmeren der USA. Dass die großen Lebensmittelketten die Preise für Landwirtschaftsprodukte immer weiter gedrückt haben, trifft die Farmer hart.

 

Nach der Gründung der Freihandelszone NAFTA zwischen Kanada, den USA und Mexiko im Jahre 1994 hat die Grenzregion südlich des Rio Grande/Rio Bravo als eine von wenigen mexikanischen Gebieten einen Wirtschaftsboom erlebt. Viele US-Unternehmen investieren hier, weil die Löhne niedriger als nördlich der Grenze sind. Gleichzeitig ist die Zahl der mexikanischen Bauern gestiegen, die das Wasser der Zuflüsse des Rio Grande/Rio Bravo nutzen, um in den Trockengebieten der Grenzregion Pekannüsse, Alfalfa, Baumwolle, Zitrusfrüchte und andere Agrarprodukte anzubauen, die sich gut in die USA exportieren lassen. Sie verbrauchen mit einer wenig effizienten Bewässerungslandwirtschaft große Mengen Wasser. Mehrere Dürrejahre ließen bis 2002 Mexikos „Wasserschulden“ gegenüber dem Nachbarland auf über 1,5 Milliarden Kubikmeter steigen, das entspricht mehr als dem gesamten Wasseranspruch der Farmer in Texas in vier Jahren.

 

Mexiko begründet die „Wasserschulden“ mit diesen Dürreperioden der letzten Jahre und beruft sich darauf, dass der Vertrag von 1944 bei gravierenden Dürrezeiten eine um mehrere Jahre verzögerte Lieferung einer ausreichenden Menge Flusswasser zulässt. Aber das wollen die US-Farmer nicht gelten lassen. Denn inzwischen ist auf beiden Seiten des Rio Grande/Rio Bravo das Wasser für eine Bewässerung der Felder knapp geworden. Deshalb setzten die US-Farmer sich für einen massiven Druck ihrer Regierung auf den südlichen Nachbarn ein, die Wasserschulden zu bezahlen. Nach Angaben der US-Landwirtschaftslobby sind durch die unzureichende Wasserversorgung bereits Verluste von zwei Milliarden Dollar entstanden und 20.000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Die konservative „Free Republic“ in den USA sprach am 7. Mai 2002 daraufhin in einer Schlagzeile von einem „Water War with Mexico“. Das aggressive Vorgehen der US-Farmer und vieler US-Politiker erinnert die Einwohner des Nachbarlandes wieder einmal an den Satz: „Armes Mexiko, so weit weg von Gott und so nah an den USA.“

 

Wasserkonflikte in den USA um das kostbare Flusswasser

 

Es gibt aber auch innerhalb der USA Konflikte um das Wasser des Rio Grande/Rio Bravo. Farmer in Texas beklagen, nicht genug Wasser für ihre Felder zu haben, weil im benachbarten Bundesstaat New Mexico so viel Wasser für die Landwirtschaft abgezweigt werde, dass der Fluss unterhalb der Stadt El Paso häufig kein Wasser mehr führe. Man könnte inzwischen von zwei Flüssen sprechen, denn der Rio Grande/Rio Bravo wird erst 250 Meilen weiter fluss­abwärts durch das Wasser des Rio Conchos aus Mexiko wieder zu einem nennenswerten Fließgewässer. Nach Auffassung der texanischen Seite ist für das Austrocknen des Flusses bei El Paso die Wasserverschwendung durch ineffiziente Bewässerungssysteme in New Mexico verant­wortlich.

 

Umgekehrt wirft man in New Mexico dem benachbarten Bundesstaat vor, exorbitant viel Wasser aus den grenzüberschreitenden Grundwasserspeichern zu entnehmen. Als Folge würden wertvolle Grundwasservorräte von New Mexico nach Texas strömen. Weil New Mexico sehr viel striktere Gesetze für die Nutzung von Grundwasser hat, wird von Öl- und Gaskonzernen Grundwasser aus Texas durch Leitungen nach New Mexico gepumpt, um dort eine große Zahl umstrittener Fracking-Projekte mit gewaltigen Wassermengen zu versorgen. New Mexico verliert also nicht nur viel Wasser aus grenzüberschreitenden Grundwasserspeichern, sondern erhält einen bedeutenden Teil davon wieder zurück – das allerdings durch die Fracking-Projekte stark verunreinigt wird.

 

Die Folgen des Booms der Bewässerungslandwirtschaft

 

Überall am Rio Grande/Rio Bravo wären große Investitionen in eine Modernisierung der Bewässerungssysteme dringend erforderlich, um das knappe Wasser sparsam zu verwenden, aber dieses Geld fehlt vor allem in Mexiko. Es wäre falsch, nur den mexikanischen Bauernfamilien die Verantwortung für die Wasserknappheit zu geben. Sie haben in einem riesigen Wirtschaftsraum, in dem sie sonst kaum eine Chance hätten, die Möglichkeit genutzt, am Rande der Wüste Gemüse und Zitrusfrüchte anzubauen und international zu konkurrieren. Sie tun das, was andere in großem Stil tun: die Nutzung von Wasser als Wirtschaftsfaktor, um immer mehr immer billiger zu produzieren. Nur führt am Rio Grande/Rio Bravo die Addition aller Einzelinteressen nicht auf wunderbare Weise durch die „unsichtbare Hand“ des Marktes zum Besten für alle, sondern in die ökologische Katastrophe, die durch Dürrejahre noch verschärft wird.

 

Auch haben seit der Gründung der Freihandelszone die Bevölkerungszahl und die Zahl der Industrieunternehmen auf beiden Seiten des Flusses rasch zugenommen und die Einwohnerzahl wird sich bis zum Jahre 2030 noch einmal mehr als verdoppeln. Das wird die Konflikte um das Wasser zwischen Städten und Landwirtschaft sehr verschärfen. Rechnet man den Bedarf von Landwirtschaft, Industrie und Haushalten zusammen, so ist deutlich, dass der Rio Grande/Rio Bravo diesen Bedarf bei Weitem nicht decken kann – es sei denn, dass sich in allen drei Bereichen ein wasser­sparendes und wasserschonendes Verhalten durchsetzt.

 

Für viele überraschend kam es Ende Juni 2002 doch noch zu einer neuen Vereinbarung zwischen den USA und Mexiko. Mexiko erklärte sich bereit, kurzfristig einen Teil seiner „Wasserschulden“ zu begleichen, und beide Regierungen vereinbarten, 40 Millionen Dollar in die Erhaltung der Wasservorräte und die bessere Nutzung des Wassers bereitzustellen, vor allem für eine effizientere Bewässerungslandwirtschaft. Das ist ein Anfang, aber die Mittel reichen bei Weitem nicht aus. Angesichts eines gnadenlosen Preiskampfes für Gemüse und Obst in der NAFTA-Zone werden die Bauern­familien selbst diese Investitionen auch nicht finanzieren können.

 

Als der Regen kam …

 

In den Jahren 2003 und 2004 gab es in den Regionen am Rio Grande/Rio Bravo starke Niederschläge. Das freute die Bauern in der Region und ermöglichte es zudem Mexiko, seine „Wasserschulden“ fast zu halbieren. Das hätte den Konflikt entspannen können, aber ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt reichten die US-Farmer eine Schadensersatzklage gegen Mexiko ein. Sie berufen sich in ihrer Klage auf den NAFTA-Vertrag und fordern von Mexiko eine Kompensation für die Schäden, die ihnen entstanden sind. Die Farmer beauftragten einen Anwalt in Washington, ihre Ansprüche durchzusetzen. Dieser wirft Mexiko vor, die eigenen Farmer zuungunsten der Farmer in den USA bevorzugt zu haben. Es werden 500 Millionen Dollar Schadensersatz gefordert. Mexiko seinerseits hofft auf eine Änderung des Vertrages von 1944, um einen höheren Anteil am Wasser des gemeinsamen Flusses zu erhalten, aber das lehnen die politisch Verantwortlichen der USA strikt ab. Mexiko hat in den letzten Jahren weitere „Wasserschulden“ beglichen und leitet dafür deutlich mehr Wasser in den Fluss, als das Land jährlich verpflichtet wäre.

 

Die starken Niederschläge 2003 und 2004 haben dazu geführt, dass die Kirche Nuestra Señora del Refugio wieder im Falcon-Reservoir verschwunden ist. Der Stausee hatte im Juli 2004 den höchsten Wasserstand der letzten zehn Jahre. Die Niederschläge haben etwas Zeit geschaffen, um endlich eine längerfristige nachhaltige Nutzung des Wassers des Rio Grande/Rio Bravo zu verwirklichen. Wissenschaftler haben berechnet, dass der Fluss Ende dieses Jahrhunderts ausgetrocknet sein wird, wenn es zu keiner grundlegend anderen Wassernutzung kommt. Und als sei all dies nicht genug an Problemen, wird inzwischen deutlich, dass sich auch die Übernutzung von grenzüberschreitenden Grundwasserspeichern nicht nur zu einem ökologischen, sondern auch zu einem wirtschaftlichen und politischen Problem entwickelt.

 

Ein Fluss und die Mauer

 

Die Pläne von US-Präsident Trump, Mauern und andere Sperranlagen zu errichten, um die Migration aus Lateinamerika in die USA zu stoppen, hat auch Auswirkungen auf das Leben am Rio Grande. Noch steht die Mauer am Fluss nicht, aber die Nationalgarde ist an verschiedenen Stellen des Ufers stationiert worden und signalisiert die Entschlossenheit des US-Präsidenten, auch hier massive Grenzanlagen zu errichten. Der Bau einer Mauer hätten nicht nur gravierende Auswirkungen auf die Menschen der Region, sondern würde auch das Ökosystem schädigen. So müssten zahlreiche Bäume, Büsche und andere Pflanzen für das Bauwerk entfernt werden und Umweltschützer befürchten außerdem, dass der Lebensraum vieler Tiere zerstört würde.

© Frank Kürschner-Pelkmann