Die Machtverhältnisse in der WTO

 

Eine entscheidende Frage für die zukünftige Richtung der Liberalisierungsdebatte sind die Machtverhältnisse in der WTO. In der Welthandelsorganisation hat jedes Land eine Stimme, und dies ist ein beachtlicher Fortschritt im Vergleich zu Weltbank und Internationalem Währungsfonds, wo die Stimmrechte bei den wirtschaftsstarken westlichen Industriestaaten konzentriert sind. Allerdings steht der formalen Gleichheit bei Abstimmungen ein völlig ungleiches Gewicht bei den Verhandlungen gegenüber. Das beginnt damit, dass mehr als 20 Vertragsstaaten nicht mit einer ständigen Delegation bei der WTO in Genf vertreten sind, andere Länder haben aus Finanzgründen so wenige Diplomaten zur WTO entsandt, dass diese völlig überfordert sind, die zahlreichen Sitzungstermine wahrzunehmen und sich in die komplizierten Sachverhalte einzuarbeiten.

 

Die westlichen Delegationen sind nicht nur weit größer, sondern haben im Hintergrund auch das Fachwissen ihrer großen Ministerien und angeschlossener Forschungseinrichtungen in der Heimat sowie den riesigen EU-Apparat in Brüssel. Und sie können auf das Fachwissen der zahlreichen Vertreter von Konzernen und Wirtschaftsverbänden zurückgreifen, die gern bereit sind, die passenden Argumente und Studien zu liefern. Eine enge Abstimmung von Regierungen und Wirtschaftsverbänden im Blick auf die Verhandlungspositionen in den zahlreichen Detailfragen findet routinemäßig statt. Zu den wichtigsten Akteuren gehört die „Coalition of Service Industries“, in der die großen US-Dienstleistungsunternehmen zusammenarbeiten und massiv Lobbyarbeit für ihre Interessen betreiben. Die EU-Kommission holt ihrerseits Ratschläge von den europäischen Dienstleistungskonzernen ein.[1]

 

Auch bei den WTO-Konferenzen gibt es dieses Ungleichgewicht, das bei der WTO-Konferenz in Seattle besonders dadurch zum Ausdruck kam, dass es „Green Room“-Gespräche gab, zu denen nur große Staaten im Norden der Welt plus einige wenige Vertreter aus dem Süden zugelassen waren und wo alle Entscheidungen vorbereitet wurden. Das löste bei den Delegationen aus dem Süden der Welt großen Unmut aus, was wesentlich zum Scheitern der Konferenz beitrug. Bei der nächsten WTO-Konferenz in Doha 2001 wurde diese offenkundige Diskriminierung etwas abgebaut, aber informelle Wege gefunden, damit die Vertretungen der reichen Staaten ihre Interessen abstimmen und durchsetzen konnten.

 

Den GATS-Dokumenten und Werbebroschüren ist auch nicht zu entnehmen, unter welchem Druck die Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas stehen, nach der Unterzeichnung des Vertrages nun auch einen Bereich nachdem nächsten der internationalen Konkurrenz zu öffnen. Sie können sich dann nur noch damit retten, dass sie die vertraglich gegebene Möglichkeit nutzen, die Liberalisierung mit einzelnen einschränkenden Bestimmungen zu versehen. Aber die nächsten Liberalisierungsverhandlungen stehen an, und ohne Angebote können auch kleine Länder nicht in diese Verhandlungen gehen, sind sie doch ihrerseits darauf angewiesen, dass die mächtigen Länder ihnen einige Zugeständnisse machen.

 

 

Dieser Text ist der 2002 erschienenen Studie „Visionen und kleine Schritte – Auf dem Weg zu einer anderen Globalisierung“ entnommen, die das Evangelische Missionswerk in Deutschland herausgegeben wurde.

 

© Evangelisches Missionswerk in Deutschland, Hamburg

 

Verfasser: Frank Kürschner-Pelkmann

 
 



[1] Vgl. Thomas Fritz: Die Bewertung der GATS-Verhandlungen im Rahmen der Wissensgesellschaft, Berlin 2002, S. 6