Damit alle satt werden

 

In allen vier Evangelien nehmen die Berichte, wie Jesus dafür sorgte, dass die Menschen satt wurden, die gekommen waren, um ihm zuzuhören, einen wichtigen Platz ein (Matthäus 14,13-21, Markus 6,31-44, Lukas 9,10-17, Johannes 6,1-13). Die Speisung der Fünftausend hat einen festen Platz in Predigten, Kindergottesdiensten und Konfirmandenunterricht. Gezählt wurden fünftausend Männer, aber aus dem biblischen Bericht geht auch hervor, dass auch Frauen und Kinder unter der Zuhörerschaft waren. Unabhängig von der Frage der Exaktheit dieser Zählung ist sicher, dass es eine große Menschenmenge war, die sich versammelt hatte, um die Predigt vom Reich Gottes zu hören. Jesu Jünger wollten in den unterschiedlichen Berichten entweder die Leute fortschicken, damit sie sich etwas zu essen kaufen konnten (Matthäus 14,15, Markus 6,36), oder wollten selbst auf dem Markt etwas einkaufen (Lukas 9,13, Johannes 6,5).

 

Aber Jesus vertraute, darin stimmen alle Berichte überein, nicht dem Markt, sondern auf Gott und die Solidarität unter den Menschen. Er wusste, dass sowohl den versammelten Menschen und noch mehr den Jüngern das Geld fehlte, um sicherzustellen, dass alle satt würden. Er hatte kein Vertrauen in einen Markt, der nur denen offen stand, die über genügend Geld verfügten. Er ließ vielmehr einige wenige Brote und Fische verteilen, die nach Ansicht der Jünger nie und nimmer ausreichen konnten für eine so große Versammlung, aber siehe da, es blieb sogar so viel Essen übrig, dass es in zwölf Körben eingesammelt wurde.

 

Es gibt unendlich viele Interpretationen dieser Erzählung der Evangelien, und die Gefahr besteht, das Wunder so sehr zu relativieren oder ihm einen symbolischen Charakter zu geben, dass das Wunderbare ganz aus dem Blick gerät. Ein armer Wanderprediger sorgt dafür, dass alle Menschen, die sich um ihn versammelten, zu essen haben, dass es keinen Hunger mehr gibt, jedenfalls für diesen Tag. Welch ein Kontrast zur heutigen Welt, wo inmitten des Überflusses Millionen Menschen hungern.

 

Im Blick auf die Globalisierung ist Franz Segbers Interpretation des Geschehens wichtig: „Sollen sie doch auf den Markt gehen und sich kaufen, was sie zum Leben brauchen, lautet der Rat der Jünger an die Hungrigen. Auch hier geht es den Jüngern nicht darum, den Hunger der Leute durch eigenes Handeln zu beheben. Der Markt soll den Hunger beseitigen. Die Religion ist nicht zuständig. Auf dem Markt geht es um Güter zum Leben. Ob der Hunger gestillt wird, wird zu einer Angelegenheit, für die der Markt verantwortlich gemacht wird. Was aber wird aus denen, die nicht mit Geld ihre Bedürfnisse befriedigen können? Der Markt antwortet nur auf die Bedürfnisse derer, die mit Geld ausgestattet sind. Wenn Geld den Zugang zu den Ressourcen regelt, dann ist nicht mehr der Bedarf der Verteilungsschlüssel. Geld verteilt nicht nach Bedarf, sondern nach Kaufkraft ... Jesus delegiert die Frage des Hungers nicht an den Markt. Er trennt das Hungerproblem aber auch nicht von der Religion.“[1]

 

Ganz ähnlich haben die Bauern und Bäuerinnen von Solentiname in Nicaragua die biblischen Berichte über die wundersame Brotvermehrung verstanden. Hören wir in ihr Gespräch hinein, das von Ernesto Cardenal aufgezeichnet wurde:

 

„Julio Mairena: Die Apostel glaubten, es gäbe dort nicht zu essen, und mir scheint, uns geht es heute genauso; wir alle sagen, dass wir nicht genug zu essen haben. Aber es ist nicht so, dass es nicht zu essen gäbe, nur haben einige wenige alles. Wenn alles geteilt würde und alle das Gleiche zu essen hätten, was diese wenigen haben, würden wir alle satt werden.

 

Alejandor: Sehr gut, was Julio sagt: Es ist sehr wichtig, dass sich alle darüber klar sind: Wenn richtig geteilt wird, reicht es für alle. Denn der Befehl, den Jesus ihnen gibt, ist, dass sie teilen sollen, nicht wahr? ...

 

Oscar: Wenn eine wirkliche Gemeinschaft besteht, gibt es Gleichheit für alle: Alle aßen gleich viel, alle wurden gleich satt. Das müsste in unserem Land geschehen! In unserem Land gibt es viele, die Hunger leiden. Aber niemand bräuchte Hunger zu leiden, wenn alles, was es in diesem Land gibt, allen gehörte ...

 

Felipe: Ich glaube, es gibt von allem genug in unserem Land. Es gibt Nahrungsmittel, Kleidung, Medikamente, es gibt alles, was man will. Es ist aber nicht dazu da, um es unter allen zu verteilen, sondern um damit zu handeln. Und die, denen alle diese Dinge gehören, wollen, dass sie knapp sind, um so ihren Gewinn zu vergrößern, egal ob die Leute vor Hunger sterben.“[2]

 

Es gibt mehrere biblische Texte, die mit diesem Bericht von der wunderbaren Brotvermehrung in einem Zusammenhang stehen. Zu erinnern ist an die Versuchung Jesu durch den Teufel, wo dieser ihn aufforderte, Steine in Brot zu verwandeln, aber das lehnte Jesus ab. Lukas hat überliefert, dass Jesus darauf mit einem Wort aus der Tora antwortete: „Er aber antwortete und sprach: Es steht geschrieben (5. Mose 8,3): ‚Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.’“ Um das Wunder der Brotvermehrung richtig zu verstehen, müssen wir noch ein wenig bei dieser Versuchungsgeschichte bleiben. Wenn Jesus Steine in Brot verwandelt hätte, wären ihm die Menschen voll Ehrfurcht und Staunen gefolgt, und er hätte dafür sorgen können, dass sie ohne Hunger leben würden.

 

Aber ein solches Verhalten hätte auch einen anderen Effekt gehabt, und den hat Fjodor Dostojewski den Großinquisitor im Gespräch mit Jesus anklagend aussprechen lassen. Jesus habe den falschen Weg gewählt, als er vom Teufel versucht wurde: „Entscheide dich selbst: Wer hatte damals recht, du oder er, der dich fragte? Entsinne dich der ersten Frage: Der Sinn ist etwa folgender: Du willst in die Welt gehen und kommst mit leeren Händen, mit dem unbestimmten Versprechen einer Freiheit, welche die Menschen in ihrer Niedertracht gar nicht verstehen können und vor der sie Furcht und Grauen hegen. Denn nichts ist jemals der Menschheit, den einzelnen Menschen und der menschlichen Gesellschaft unerträglicher gewesen als die Freiheit! Aber siehst du die Steine dort in dieser nackten glühenden Wüste? Verwandle sie in Brot, und hinter dir wird die Menschheit herlaufen wie eine Herde, dankbar und folgsam, wenn auch in ewigem Zittern, du möchtest deine Hand von ihnen ziehen und es gäbe dann keine Brote mehr für sie. Du aber wolltest nicht den Menschen die Freiheit rauben und wiesest den Vorschlag von dir: Denn was ist das für eine Freiheit, so wähntest du, wo Gehorsam erkauft wird durch Brote?“[3]

 

Jesus wollte den Menschen die Freiheit lassen, das warf der Großinquisitor ihm vor. Aber genau diese Freiheit bildete eine der Kernbotschaften Jesu. Deshalb sind die Geschichten von der wunderbaren Brotvermehrung die Antwort auf die Versuchung. Nicht als Herrscher, der Wunder vollbringen konnte, sorgte Jesus dafür, dass alle Menschen genug zu essen haben, sondern er bezog die Menschen in dieses Wunder ein. Er ließ sie in kleinen Gruppen lagern, so wie sie es nach der Flucht aus Ägypten getan hatten. (Lukas 9,14)

 

Ging es damals um die Frage der Leitung der Gruppe (Exodus 18,21-25), so ging es nun um geschwisterliches Teilen dessen, was alle besaßen. Dann geschah das Wunder. Jesu Beispiel, Brot und Fisch mit anderen zu teilen, führte dazu, dass alle bereit waren, miteinander zu teilen, und da war nicht nur genug für alle da, sondern es herrschte Überfluss. Dass fünf Brote verteilt wurden, ist kein Zufall, sondern erinnert an die fünf Bücher Mose, an die überwundene Sklaverei in Ägypten und die daraus erwachsene Verantwortung, eine Gemeinschaft zu bilden, in der niemand versklavt wird. Und die fünf Bücher Mose stehen für die Verheißungen Gottes, für seine Gesetze und Regeln und für die Aufgabe, mit den Armen zu teilen. Der Glaube an die Liebe und Gerechtigkeit Gottes befreit zu solidarischem Handeln. Indem Jesus also fünf Brote verteilen ließ, erinnerte er die Versammelten an die Verheißung der Bibel, die zugleich eine Verpflichtung zu einem gottgefälligen Leben war und ist.[4]

 

Die Ökonomie der gemeinsamen Haushalterschaft hatte ein Wunder ermöglicht. Jesu Aussage bei der Abwehr der Versuchung wird hier ausgelegt: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von dem Wort Gottes und von dem geschwisterlichen Handeln, das sich am Wort Gottes orientiert und ein Leben in Solidarität ermöglicht. Jesus machte die versammelten Menschen zu Teilhabern an diesem Wunder, zu Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Gottes auf dem Weg zu einer Welt, in der alle genug haben. Dieses Wunder ist viel größer als die bloße Vermehrung der Zahl von Broten und Fischen oder die Verwandlung von Steinen in Brote. Es ist eine wunderbare Einladung, am Reich Gottes mitzuwirken.

 

 

 

Dieser Text ist der 2002 erschienenen Studie „Gott und die Götter der Globalisierung - Die Bibel als Orientierung für eine andere Globalisierung“ entnommen, die das Evangelische Missionswerk in Deutschland herausgegeben wurde.

 

© Evangelisches Missionswerk in Deutschland, Hamburg

 

Verfasser: Frank Kürschner-Pelkmann

 

 

 



[1] Franz Segbers: „... und alle aßen und wurden satt“, in: Füssel/Segbers: „... und so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit“, Luzern und Salzburg 1995, S. 97f.

[2] Ernesto Cardenal: Das Evangelium der Bauern von Solentiname, Wuppertal 1980, S. 309ff.

[3] Fjodor Dostojewski: Der Großinquisitor, Gütersloh 1987, S. 24f.

[4] Vgl. hierzu: Franz Segbers: „... und alle aßen und wurden satt“, in: Füssel/Segbers, a. a. O., S. 99f.