Titelseite des Buches "Babylon - Mythos und Wirklichkeit"
Dieser Beitrag ist dem Buch "Babylon - Mythos und Wirklichkeit" von Frank Kürschner-Pelkmann entnommen, das im Steinmann Verlag, Rosengarten, erschienen ist. Das Buch ist im Buchhandel und beim Verlag erhältlich.

Daniel – eine Karriere am Hof von Nebukadnezar

 

Das Leben im babylonischen Exil wird in den Geschichten des Buches Daniel auf vielfältige Weise zum Thema. Zunächst wird in Erinnerung gerufen, dass die Babylonier unter König Nebukadnezar die Stadt Jerusalem belagert und besetzt hatten. Dann folgt eine wichtige theologische Interpretation der Eroberung der Stadt: „Und der Herr gab in seine Hand Jojakim, den König von Juda, und einen Teil der Geräte aus dem Hause Gottes“ (Daniel 1,2). Nebukadnezar wird also auch in diesem biblischen Buch als ein Instrument Gottes dargestellt.

 

Anschließend wird vom Aufstieg Daniels am babylonischen Königshof erzählt. Nebukadnezar gab seinem obersten Kämmerer den Auftrag, einige junge Männer unter den nach Babylon verschleppten Juden für den Dienst am Königshof auszuwählen. Sie sollten von edler Herkunft, schön, begabt, weise, klug und verständig sein. Heute würden „Talentscouts“ die junge Leute an Universitäten begutachten, vielleicht ebenfalls nach begabten, weisen, klugen und verständigen jungen Leuten suchen. Schönheit hat der Karriere noch nie geschadet, und die „edle“ Herkunft hat es bis heute erleichtert, so manche Sprosse auf der Karriereleiter zu erklimmen. Als Grundlage ihrer Ausbildung sollten die zukünftigen Diener zunächst in der babylonischen Schrift und Sprache unterwiesen werden. Unter den ausgewählten jungen Männern war Daniel, der den babylonischen Namen Beltschazar erhielt.

 

So lesen wir es im 1. Kapitel des Buches Daniel. Dieser biblische Text entstand in mehreren Schritten und erhielt etwa im 2. Jh. v. Chr. seine heutige Gestalt. Einige Theologen datieren den Text wesentlich früher, aber im Text lassen sich persische und griechische Einflüsse aufzeigen. Der indische Theologe Sangtinuk schreibt hierzu: „Die rhetorische Situation des Daniel-Buches als Ganzes kann vermutlich am besten verstanden werden auf dem Hintergrund der Hellenisierung im Allgemeinen und besonders der hegemonialen Herrschaft und religiösen Unterdrückung durch den seleukidischen König Antiochus IV. Epiphanes (175-165 v. Chr.).“[1]

 

Auch historische Ungenauigkeiten deuten darauf hin, dass bereits geraume Zeit seit dem babylonischen Exil vergangen war. Das wird gleich in den ersten beiden Versen sichtbar. Hiernach wurde König Jojakim nach der Eroberung von Jerusalem durch Nebukadnezar II. aus seiner Heimat verschleppt. In der Darstellung von 2. Könige 23 und 24 hingegen starb dieser König in seiner Heimatstadt Jerusalem, und die Eroberung durch die babylonischen Truppen fand erst kurze Zeit später statt. Die meisten Theologen vertreten die Auffassung, dass dies die historisch zuverlässige Darstellung des Geschehens ist. Deshalb schreibt Rainer Albertz in seinem Standardwerk über die Exilszeit zum Daniel-Buch: „So haben die Danielerzählungen nur noch verschwommene Vorstellungen von den historischen Gegebenheiten der Exilszeit.“[2]

 

Erwähnenswert ist, dass das Daniel-Buch im griechischen Text der Bibel (Septuaginta) deutlich umfangreicher ist als in der Hebräischen Bibel. In der Hebräischen Bibel fehlen manche Geschichten, so die Geschichte von Susanna. An dieser Stelle sollten wir uns in Erinnerung rufen, dass das christliche Alte Testament keineswegs identisch mit der Hebräischen Bibel ist und dass die Auffassung, Gott habe den biblischen Text wortwörtlich den Autoren der biblischen Bücher diktiert, auch in dieser Hinsicht auf kaum lösbare Probleme stößt.

 

Daniel war sehr wahrscheinlich keine historische Person, sondern ist eine biblische Idealgestalt, mit der Geschichten und Legenden aus der Zeit des babylonischen Exils in Verbindung gebracht wurden. Der Name Daniel bedeutet „Gott richtet“, und das wird in den Geschichten und Prophezeiungen des Buches entfaltet. Während die ersten sechs Kapitel von wunderbarem Geschehen im Leben von Daniel und seiner Freunde erzählen, ist der zweite Teil von Visionen und Prophezeiungen bestimmt, die Ähnlichkeiten mit der späteren Offenbarung des Johannes aufweisen.

 

Bei der Interpretation dieser Texte ist zu berücksichtigen, dass sich die Visionen Daniels auch oder vor allem auf die konkrete historische Situation bei der Abfassung des Buches beziehen, also auf die Bedrohung der jüdischen Bevölkerung durch die Seleukiden während der Makkabäerzeit im 2. Jahrhundert v. Chr.; Matthias Albani schreibt in seinem Buch über die biblische Gestalt Daniel hierzu: „Die im Danielbuch gesammelten apokalyptischen Visionen versuchen auf unterschiedliche Weise, diesen quälenden Widerspruch zwischen den biblischen Verheißungen und der tatsächlichen Welterfahrung zu lösen. Sie präsentieren in verschiedenen Variationen Geschichtsdeutungen, welche die deprimierende Erfahrung politischer und religiöser Ohnmacht sozusagen von der höheren Warte Gottes aus einsichtig machen und eine Hoffnungsperspektive eröffnen wollen.“[3] Matthias Albani betont, dass der apokalyptische Teil des Daniel-Buches nicht Schrecken verbreiten, sondern Trost spenden und die Hoffnung auf ein Ende der Beherrschung durch fremde Großmächte wecken wollte.[4]

 

Der indische Theologe M.C. Thomas, Professor für Altes Testament an einer Hochschule der Mar Thoma Kirche im indischen Kerala, betont ebenfalls die Bedeutung des Daniel-Buches und anderer apokalyptischer Schriften als Widerstandsliteratur angesichts der Unterdrückung durch fremde Mächte: „Kurz gesagt kann die Apokalyptik verstanden werden als eine Widerstandsbewegung gegen die Beherrschung durch andere Völker … Apokalyptische Schriften sind im Kern gegen die vorherrschende Kultur gerichtet und stellen eine Literatur der Machtlosen und Entrechteten dar.“[5] Diese apokalyptischen Texte haben die Kraft, die soziale Wirklichkeit zu verändern, ist der indische Theologe überzeugt. „Diese Diskurse unterwerfen die irdischen Königreiche der höchsten Macht Gottes, der die Königreiche seinem Gericht unterwirft und Gerechtigkeit schafft für die, die ihrer bedürfen, und der auf diese Weise die Welt in einen neuen Himmel und eine neue Erde verwandelt.“[6]

 

Die Bekräftigung von Gottes Herrschaft und Souveränität

 

Bei der Geschichte vom Aufstieg Daniels am babylonischen Königshof sind Rückgriffe auf Josef zu erkennen, der in der biblischen Darstellung eine hervorgehobene Position am Hof des ägyptischen Pharaos erlangte und dort für seine Deutung von Träumen große Anerkennung fand. Diese „Erfolgsgeschichte“ wiederholt sich im Daniel-Buch in Babylonien unter anderen Bedingungen und mit anderen Legenden. Die Botschaft ist eindeutig: In Zeiten der Anfechtung wie im babylonischen Exil oder angesichts der Bedrohung durch die Seleukiden können nur der Glaube an den einen Gott und die Treue zu ihm eine Rettung bringen. Nur so lassen sich existenzielle Bedrohungen überstehen.

 

Damit ist eine große Verheißung verbunden, betont der indische Theologe M.C. Thomas: „Jedes Kapitel des Daniel-Buches endet mit einer Bekräftigung von Gottes Herrschaft und Souveränität sowie ebenso Gottes Eintreten für die Armen und Unterdrückten. Selbst inmitten von Leiden und Unterdrückung gewährt Gott ihnen die Hoffnung auf das Heil. Die leidenden Menschen erfahren Gottes Gegenwart inmitten der Verfolgung.“[7] Dies hat bereits den ersten Christinnen und Christen viel Mut und Hoffnung gegeben, sodass wir zum Beispiel das Motiv des Überlebens von Daniel in der Löwengrube häufiger in den frühchristlichen Malereien in den Katakomben von Rom finden.

 

Aufstieg in königlichen Diensten

 

Kehren wir nun mit einem solchen Verständnis des Daniel-Buches zum ersten Kapitel zurück. Es erstaunt, wie milde König Nebukadnezar hier mit den besiegten Juden umging, jedenfalls mit einigen von ihnen. Er ließ die jungen Leute gründlich auf die Vertrauenspositionen königlicher Diener vorbereiten. Das ist von kritischen Theologinnen und Theologen im Süden der Welt interpretiert worden als Versuch, die Mitglieder der lokalen Eliten in das Herrschaftssystem einzubinden und sich ihre Fähigkeiten zunutze zu machen. Ohne Probleme war der gesellschaftliche Aufstieg in Babylon für die jungen jüdischen Männer nicht. Daniel war entschlossen, die jüdischen Reinheitsgebote einzuhalten und nicht durch Speisen und Wein des Königs unrein zu werden.

 

Und Gott sorgte in dieser Geschichte dafür, dass der oberste Kämmerer gegenüber Daniel gnädig gestimmt war. Wenn auch zögernd stimmte er deshalb zu, dass Daniel und seine drei Freunde entgegen der königlichen Anordnung nichts von dessen Essen und Wein zu sich nehmen mussten. Stattdessen durften sie sich zunächst probeweise zehn Tage lang von Gemüse und Wasser ernähren. Anders als vom Kämmerer befürchtet, sahen Daniel und seine drei Freunde nach diesen zehn Tagen schöner und kräftiger aus als jene jungen Leute, die die königlichen Speisen gegessen hatten. Daraufhin durften sich Daniel und seine Freunde weiterhin von Gemüse ernähren. Es ging hier selbstverständlich nicht um die Frage der Vorzüge einer vegetarischen Ernährungsweise, sondern darum, durch die Beschränkung auf Gemüse die koscheren Speisevorschriften einzuhalten, vor allem die Vorschriften zum Verzehr erlaubter und nicht erlaubter Tiere sowie die Trennung von fleischigen, milchigen und neutralen Lebensmitteln. Dies war im realen Exil, wo die Verbote erst ihre verbindliche Gestalt annahmen, vermutlich noch kein reales Problem, wohl aber in der hellenistischen Herrschaftszeit, als das Daniel-Buch verfasst wurde.

 

Gott gab den vier jungen Leuten so viel Einsicht und Verstand, dass sie sich babylonische Schrift und Weisheiten rasch aneigneten. Daniel entwickelte außerdem die Fähigkeit, Gesichte und Träume zu lesen, was sich in den weiteren Geschichten des biblischen Buches als sehr nützlich erweisen sollte. Nach dem Ende der Ausbildungszeit mussten alle jungen Leute vor Nebukadnezar erscheinen, und es stellte sich heraus, dass niemand Daniel und seinen drei Freunden ebenbürtig war. Die Vier wurden deshalb zu Dienern des Königs berufen.

 

Dass in der Geschichte der König selbst die Auswahl traf, hebt hervor, um welch eine Vertrauensstellung es sich handelte. Erst einmal fand die Geschichte von der Berufung Daniels und seiner Freunde an den königlichen Hof einen positiven Abschluss: „Und der König fand sie in allen Sachen, die er sie fragte, zehnmal klüger und verständiger als alle Zeichendeuter und Weisen in seinem ganzen Reich. Und Daniel blieb im Dienst bis ins erste Jahr des Königs Kyrus“ (Daniel 1,19-20).

 

Vier Reiche, ein ratloser König und ein kluger Traumdeuter

 

Etwas verwirren kann es schon, dass wir uns am Anfang des zweiten Kapitels des Daniel-Buches im zweiten Herrschaftsjahr von Nebukadnezar wiederfinden, denn im ersten Kapitel hatte dieser bereits Jerusalem erobert und anschließend verschleppte junge Leute wie Daniel mehrere Jahre lang zu Dienern ausbilden lassen. Aber wir bewegen uns eben nicht in einer chronologisch präzise aufgebauten Darstellung eines historischen Geschehens, sondern in einer biblischen Erzählung, die uns den Glauben an den einen Gott näherbringen soll. Im zweiten Jahr seiner Herrschaft also hatte König Nebukadnezar einen Traum, der ihn erschreckte, als er aufwachte. Und wie in solchen Situationen üblich, ließ er seine Zeichendeuter, seine weisen Männer, seine Zauberer und Wahrsager rufen und sprach zu ihnen: „Ich habe einen Traum gehabt; der hat mich erschreckt, und ich wollte gerne wissen, was es mit dem Traum gewesen ist“ (Daniel 2,3).

 

Für den Fall, dass die Gelehrten den Traum nicht deuten könnten, kündigte der König an, sie in Stücke hacken und ihre Häuser in Schutthaufen verwandeln zu lassen. Dass alle Wahrsager und Traumdeuter trotz der Drohungen versagten, lag auch daran, dass der König ihnen verschwieg, was er geträumt hatte. Nebukadnezar befahl in dieser Geschichte, alle weisen Männer von Babylon umbringen zu lassen. Auch Daniel und seine drei Gefährten standen auf der Todesliste. Daniel konnte den Obersten der Leibwache aber überzeugen, ihn zum König zu führen, dann werde er den Traum deuten.

 

Daniel betete zu Gott, der ihm tatsächlich den Inhalt und die Bedeutung des Traums offenbarte. Daniel lobte dankbar den Gott des Himmels und pries ihn mit diesen Worten: „Er ändert Zeit und Stunde; er setzt Könige ab und setzt Könige ein; er gibt den Weisen ihre Weisheit und den Verständigen ihren Verstand“ (Daniel 2,21). Zu beachten ist hier, dass Gott Zeit und Stunde ändert, denn es ist wahrscheinlich eine Anspielung auf die weit entwickelte babylonische Zeitberechnung und die Beobachtung der Himmelskörper. Daniel verkündete, dass Gott allen babylonischen Astronomen/Astrologen überlegen war und jederzeit die Regeln für den Lauf der Zeit und der Planeten ändern konnte.

 

Nach diesem Lobpreis Gottes ging Daniel zum Obersten der Leibwache und bat ihn, die Weisen des Reiches nicht wie befohlen auf der Stelle töten zu lassen. Dem König aber sagte Daniel, dass zwar die Gelehrten den Traum nicht deuten könnten: „Aber es ist ein Gott im Himmel, der kann Geheimnisse offenbaren. Der hat dem König Nebukadnezar kundgetan, was in künftigen Zeiten geschehen soll“ (Daniel 2,28).

 

Daniel beschrieb den Traum des Königs mit diesen Worten: „Du, König, hattest einen Traum, und siehe, ein großes und hohes und hell glänzendes Bild stand vor dir, das war schrecklich anzusehen. Das Haupt dieses Bildes war von feinem Gold, seine Brust und seine Arme waren von Silber, sein Bauch und seine Lenden waren von Kupfer, seine Schenkel waren von Eisen, seine Füße waren teils von Eisen und teils von Ton. Das sahst du, bis ein Stein herunterkam, ohne Zutun von Menschenhänden; der traf das Bild an seinen Füßen, die von Eisen und Ton waren, und zermalmte sie. Da wurden miteinander zermalmt Eisen, Ton, Kupfer, Silber und Gold und wurden wie Spreu auf der Sommertenne, und der Wind verwehte sie, dass man sie nirgends mehr finden konnte. Der Stein aber, der das Bild zerschlug, wurde zu einem großen Berg, sodass er die ganze Welt füllte“ (Daniel 2,31-35).

 

Zu Beginn der Deutung des Traums machte Daniel deutlich, wem Nebukadnezar seine Macht verdankte: „Du, König, bist ein König aller Könige, dem der Gott des Himmels Königreich, Macht, Stärke und Ehre gegeben hat“ (Daniel 2,37). Gott allein hätte dem König alle Menschen und Tiere in die Hand gegeben und ihm alle Gewalt über sie verliehen. Nebukadnezar wäre das goldene Haupt in seinem Traum. Nach seinem würden ein zweites und ein drittes Königreich folgen, die schwächer sein würden, also aus Kupfer.

 

Das vierte Reich aber würde hart wie Eisen sein und alles zermalmen und zerbrechen. Dass der König in diesem Teil des Traums Füße und Zehen teils aus Ton und teils aus Eisen hätte, bedeute, dass dies ein geteiltes Königreich sein werde mit einem starken und einem schwachen Teil.

 

Dass sich im Traum dann Eisen und Ton vermengt hätten, würde besagen, dass die beiden Reiche durch Heiraten zusammenkommen würden. Aber so wie Ton und Eisen würden sich auch die beiden Reiche nicht miteinander verbinden. „Aber zur Zeit dieser Könige wird der Gott des Himmels ein Reich aufrichten, das nimmermehr zerstört wird; und sein Reich wird auf kein anderes Volk kommen. Es wird alle diese Königreiche zermalmen und zerstören; aber es selbst wird ewig bleiben, wie du ja gesehen hast, dass ein Stein ohne Zutun von Menschenhänden vom Berg herunterkam, der Eisen, Kupfer, Ton, Silber und Gold zermalmte. So hat der große Gott dem König kundgetan, was dereinst geschehen wird“ (Daniel 2,44-45).

 

Während mit dem ersten Reich eindeutig das babylonische Reich Nebukadnezars gemeint ist, erweist sich die Zuordnung der übrigen drei Reiche nicht ganz so eindeutig. Mit dem zweiten Königreich ist wahrscheinlich das Reich der Meder gemeint, denn nach dem Geschichtsverständnis Daniels (vgl. Daniel 6) trat es die direkte Nachfolge des babylonischen Reiches an, was zu den diversen historischen Ungenauigkeiten im Buch Daniel gehört. Tatsächlich war das Reich der Meder schon vor Babylonien von den Persern erobert worden und bestand danach nicht mehr. Das dritte Reich war dieses persische Reich und das vierte Königreich wahrscheinlich das Reich von Alexander dem Großen, das nach seinem Tod in verschiedene Machtbereiche zerfiel. Am Ende des Traums zerbrach alles unter der Wucht des mächtigen Steins oder Felsens, ein Symbol für den Gott der Juden.[8]

 

Auffällig ist hier, dass der Text nicht wie frühere biblische Texte zugespitzt wird auf die Zerstörung Babylons. Im 2. Jahrhundert v. Chr. war dies kein herausragendes Thema für die Verfasser biblischer Texte mehr. Das Exil lag einige Jahrhunderte zurück, der Tempel war wieder aufgebaut worden, und Babylon hatte seine politische Bedeutung weitgehend verloren. Ansehen genoss die Stadt nur noch wegen ihrer Wissenschaft (vor allem wegen der Mathematik und Astronomie/Astrologie), die von den Griechen zum Teil übernommen worden war. Es galt nun nicht mehr, die Überlegenheit des jüdischen Gottes über die militärische Macht Babylons zu verkünden, sondern den Deutungsanspruch der Babylonier in Fragen von Religion, Astronomie und Traumdeutung zu bestreiten und die göttliche Überlegenheit sichtbar werden zu lassen.

 

Und das geschah in der Geschichte dann auch mit einem dramatischen Schluss. König Nebukadnezar fiel nach Daniels Traumdeutung auf sein Angesicht und warf sich nieder vor Daniel. Er befahl, ihm Speiseopfer und Räucheropfer darzubringen. Zu Daniel sprach der König: „Es ist kein Zweifel, euer Gott ist ein Gott über alle Götter und ein Herr über alle Könige, der Geheimnisse offenbaren kann, wie du dies Geheimnis hast offenbaren können“ (Daniel 2,47). Der König gab Daniel viele wertvolle Geschenke, machte ihn zum Fürsten über das ganze Land Babylon und setzte ihn als obersten aller Weisen des Landes ein. Der König hätte ihm auch die Herrschaft über einige Regionen von Babylonien übertragen, aber Daniel zog es vor, am Hof des Königs zu bleiben.

 

Daniel hatte in dieser Geschichte eindrucksvoll gezeigt, dass ein kluger jüdischer Mann mit göttlicher Hilfe allen babylonischen Traumdeutern und Wahrsagern weit überlegen war und sogar der König vor ihm niederfiel. Wir können uns an dieser Stelle an die Geschichte erinnern, wie Josef einen Traum des Pharaos deutete, woran vorher alle ägyptischen Traumdeuter gescheitert waren. In beiden Fällen ging es darum zu zeigen, dass Gott auch der Herr über die Träume ist und auserwählte Menschen dazu befähigen kann, diese Träume zu deuten.

 

Angesichts der enorm großen Bedeutung, die man damals im Mittleren Osten und Nordafrika den Träumen und deren Deutung zumaß – und besonders Träumen von Königen und Pharaonen –, war das keine Marginalie. Der Gott der Bibel ist demnach nicht nur in der Lage, die Vernichtung feindlicher Armeen anzuordnen, sondern er kontrolliert auch die Welt der Träume. Er ist – so die Botschaft des Danielbuches – ein im umfassenden Sinne allmächtiger Gott. Historisch ist diese Geschichte nicht – vermutlich nicht einmal originär. Denn die Darstellung von den vier Weltreichen weist auffällige Ähnlichkeiten zu einer persischen Legende auf. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, wie stark biblische Texte von Legenden und religiösen Texten anderer Völker der Region beeinflusst worden sind. Und immer wurden diese Texte den eigenen Bedürfnissen angepasst.

 

Wer mag der König gewesen sein?

 

Offen bleiben muss nach dem gegenwärtigen Stand der theologischen Forschung, ob in dieser Geschichte tatsächlich König Nebukadnezar II. eine Hauptrolle zukam oder es eigentlich um einen seiner Nachfolger, König Nabonid, gehen sollte. Es kann kein Zweifel bestehen, dass Nebukadnezar II. eine ganze Reihe von Traum- und Sterndeutern beschäftigte. Man könnte ihm die Geschichte also zuordnen. Sehr unwahrscheinlich ist hingegen, dass dieser König seinen Traumdeutern den eigenen Traum vorenthielt und trotzdem eine Deutung erwartete.

 

Aber dieser Vorbehalt gilt auch für König Nabonid – und jeden anderen halbwegs vernunftbegabten Herrscher. Dafür, dass Nabonid die Vorlage für den König in der Geschichte gebildet haben könnte, spricht aber, dass Träume in seinem Leben eine besondere Bedeutung besaßen. Er begründete seinen Herrschaftsanspruch damit, dass ihm der Gott Marduk im Traum die Macht übertragen hatte. Auch andere wichtige Entscheidungen dieses Königs beruhten darauf, dass er im Traum göttliche Weisungen empfangen haben wollte. Kommt hinzu: Anders als von Nebukadnezar ist von Nabonid überliefert, dass er massive Konflikte mit den Priestern und weisen Männern Babylons hatte. Der König wollte dem Sonnengott Sin einen hervorgehobenen Platz im Götterhimmel und in der Verehrung der Menschen einräumen, was auf den heftigen Widerstand der Marduk-Priesterschaft stieß.

 

Dieser Konflikt könnte den Hintergrund dafür bilden, dass sich der König in der Daniel-Geschichte mit seinen Traumdeutern und weisen Männern überwarf. Allerdings spielt in der Daniel-Geschichte der Marduk-Konflikt von König Nabonid mit der Priesterschaft keine Rolle, sondern es geht um die Unfähigkeit der weisen Männer des Landes, einen Traum zu deuten. Auch hat König Nabonid keinen Massenmord an den weisen Männern seines Landes angeordnet, sondern ist wahrscheinlich – wie noch dargestellt werden wird – nicht zuletzt aufgrund des Konfliktes mit ihnen für ein Jahrzehnt in die Wüste ausgewichen.

 

Ich möchte es deshalb bei der Feststellung belassen, dass in dieser Legende ein babylonischer König eine wichtige Rolle spielt, den die Verfasser dieser Geschichte als Nebukadnezar bezeichnet haben. Und das war sehr wahrscheinlich kein Zufall. Nebukadnezar war auch in später verfassten alttestamentlichen Texten weiterhin das Urbild eines despotischen Herrschers, dem alle Schlechtigkeiten – wie Morddrohungen gegen alle weisen Männer seines Reiches – zugetraut wurden.

 

Wer Jerusalem erobert und zerstört hatte, von dem waren alle Verbrechen zu erwarten. Später haben die zahlreichen negativen Geschichten über diesen König in der Bibel das Bild vom despotischen orientalischen Herrscher geformt, das bis heute nachwirkt. Matthias Albani schreibt in seinem Daniel-Buch hierzu: „Offenbar ist das Nebukadnezarbild des Danielbuches, welches auch die christliche Sichtweise geprägt hat, ein polemisches Zerrbild. Der Nebukadnezar des Danielbuches ist nicht der historische König, sondern eine exemplarische Gestalt, der Despot par excellence.“[9]

 

© Steinmann Verlag, Rosengarten

Autor: Frank Kürschner-Pelkmann

 


[1] Sangtinuk: Daniel: A Counter Paradigm to the Hellenistic Imperalism vis-á-vis Burmanization in Chin State, in: Asia Journal of Theology, 1/2010, S. 36.

[2] Rainer Albertz: Die Exilszeit, a. a. O., S. 27.

[3] Matthias Albani: Daniel, Traumdeuter und Endzeitprophet, Leipzig 2010, S. 26.

[4] Vgl. ebenda, S. 38.

[5] M.C. Thomas: The Book of Daniel: The Apocalypse with a Distinct Character for Liberative Praxis and Theological Vision, in: Asia Journal of Theology, 2/2005, S. 288.

[6] Ebenda.

[7] Ebenda, S. 300.

[8] Vgl. Matthias Albani: Daniel, a. a. O., S. 79ff.

[9] Ebenda, S. 74.